Der Flug: Früher war fast alles schlechter (Teil 3)

28.12.2019

Mit großer Mühsal durchquerte der Brandenburger Leichhardt mit seiner Expedition den Urwald Queenslands.

Wie ein ostdeutscher Flüchtling zum australischen Prinz der Entdecker aufstieg

Schon nach wenigen Tagen gerieten die Männer in ein undurchdringliches Gehölz aus Akazien, Kasuaren und krüppeligen Teebäumen. Während die mächtigen Ochsen sich den Weg durch das Dickicht bahnten, zerrissen mehrere Säcke, wodurch ein großer Teil ihres Mehlvorrats verloren ging. Immer wieder brannten Pferde durch, die Männer brauchten Stunden, um sie wieder einzufangen. Die Ochsen konnten statt der geplanten 250 Kilogramm nur 150 Kilogramm tragen und warfen häufig ihre Ladung ab. Tragsättel zerbrachen, Tragegurte rissen entzwei. Nachts entfernten sich die widerspenstigen Tiere vom Lager und trabten zum letzten Weideplatz zurück. Heftige Regenfälle verwandelten den Boden in zähen Morast, in den die Abenteurer und die Tiere bis zu den Knien einsanken. All dies hatten Leichhardt und seine unerfahrene Mannschaft nicht vorhergesehen. Die Expedition kam sehr viel langsamer voran als erwartet.

 

Nach fünf Wochen stellte sich heraus, dass die Vorräte nicht für die gesamte Reise reichen würden. Leichhardt entließ zwei Männer, die Verbliebenen mussten oft hungrig schlafen gehen. Zu ihrem Glück erbeuteten sie auf der Jagd genug Wild, um bei Kräften zu bleiben. Sie schossen Kängurus, Flughunde, Emus, Enten oder Kakadus, fingen Leguane und Aale und sammelten Portulak, Sau-Disteln, Früchte und was sonst noch an Essbarem in der Wildnis wuchs. Die vitaminreiche Pflanzennahrung bewahrte sie vor Skorbut, eine Geißel, die Entdeckern in der Wüste schwer zusetzte. Das Fleisch machten sie haltbar, indem sie es in Streifen schnitten und einige Tage in der Sonne trockneten. Das Dörrfleisch stillte ihren Hunger, aber genießen ließ es sich nicht. War es mager und sehnig, lockerten sich ihre Zähne beim Kauen; wurde es feucht, nisteten sich Maden ein. Die eingeborenen Fährtensucher wollten sich den Regeln des Lagers nicht unterwerfen, und als Leichhardt sie zur Ordnung rief, verpasste Charley ihm einen Kinnhaken. Leichhardt schmiss die beiden aus dem Lager. Doch schon nach kurzer Zeit kehrten sie reuevoll zurück und gelobten ihm Gehorsam, worauf er sie erleichtert wieder aufnahm. Ohne die Fährtensucher wäre seine Expedition verloren gewesen. Nur sie konnten entlaufene Tiere wiederfinden und Männer vor dem Tod retten, die sich auf Erkundungsgängen verirrten.

 

Den schwersten Schlag erlitten die Abenteurer, als Aborigines sie angriffen. Die Gebiete, die sie durchquerten, gehörten verschiedenen Stämmen, und manche waren den weißen Eindringlingen feindlich gesinnt. Als Charley und Harry zwei Frauen des Kokopera-Stammes belästigten, griffen die Eingeborenen bei Nacht mit einem Hagel von Speeren das Zeltlager an. Die im Schlaf überraschten Männer konnten die Angreifer mit ihren Gewehren verjagen. Doch Gilbert wurde von einem Speer durchbohrt, ein Zweiter verlor ein Auge, einem Dritten durchbohrten Speere mit Widerhaken die Hüfte und ein Knie. Leichhardt versuchte den regungslosen Gilbert mit einem Aderlass zu retten. Wenn er nicht schon tot war, gab ihm das den Rest. Die Männer begruben ihn unweit der Küste am Golf von Carpentaria. Es lässt sich denken, dass Leichhardt das Hinscheiden seines Stellvertreters nicht allzu sehr betrübte. Beide waren auf Ruhm aus und hatten sich zerstritten, weil Gilbert sich nicht damit begnügen wollte, als Entdecker aller unbekannten Vogelarten zu gelten. Entgegen ihrer Vereinbarung sammelte er auch andere Tiere und Pflanzen, was Leichhardt sehr erzürnte.

 

Je länger die Expedition dauerte, umso wahrscheinlicher wurde ihr Scheitern. Die Vorräte waren beinahe aufgebraucht. Der wenige Luxus, den die Abenteurer sich zum Geburtstag der Queen gönnten, waren ein Fettkuchen aus Mehl und Talg und ein Topf gesüßten Tees. Bei einem Erkundungsritt verirrte sich Leichhardt und verdurstete fast in der Hitze. Vier Pferde ertranken bei Flussüberquerungen, alle Jagdhunde gingen verloren, und als die Männer kein Wild mehr erlegen konnten, schlachteten sie alle Ochsen bis auf einen. Zu guter Letzt erreichte die Expedition aber doch noch ihr Ziel. Bis auf den getöteten Gilbert kamen die Abenteurer ausgemergelt und zerlumpt am 17. Dezember 1845 in Port Essington an. Statt der geplanten fünf Monate waren sie vierzehn unterwegs gewesen und hatten eine Strecke von 4.800 Kilometern zurückgelegt. Doch ihre Anstrengungen und Entbehrungen waren von Erfolg gekrönt. Sie hatten einen Landweg durch Australiens tropischen Norden gefunden und waren auf riesige Flächen von Weideland und Wasser gestoßen. Zudem brachte Leichhardt Gesteinsproben vom größten Kohlevorkommen Australiens mit. Voller Euphorie schrieb er in sein Tagebuch: „In socialer wie in politischer Hinsicht ist es schwer, ja unmöglich, die Wichtigkeit der kürzlich gemachten Entdeckungen jener unbegrenzten fruchtbaren Landstriche zu überschätzen, welche sich gegen Norden ausdehnen und bald mit unzähligen Herden bedeckt, als Wohnplatz des civilisierten Mannes gesucht sein werden.“ Über seine Reisegefährten äußerte er sich weniger überschwänglich. In seinem Tagebuch bezeichnete er sie als seine Peiniger und schrieb zornig nieder, dass seine größte Erleichterung über das Ende der Reise darin bestehe, sie endlich los zu werden. Ihr bloßer Anblick widere ihn an, weil sie sich so wenig bemühten, ihm zu gefallen. Dies habe er ihnen unverblümt gesagt.

Jabiru, Kakadu Nationalpark, Australien, Reiseblog
Auf der Expedition sammelte Leichhardt präparierte Vögel und Pflanzen für naturkundliche Zwecke

Australien kürt einen Deutschen zum Prinz der Entdecker - das verursacht Missgunst und Neid

In Sydney, dem Regierungssitz von New South Wales, hatte man die Abenteurer bereits abgeschrieben. Man vermutete, sie seien von Aborigines getötet oder in einem Wirbelsturm erschlagen worden. Als die Totgeglaubten dann auf dem Schoner Heroine im Hafen einliefen, kannte der Jubel keine Grenzen. Man feierte sie überschwänglich als Helden und belohnte sie reichlich. Eine private Sammlung erbrachte Spenden über 1.500 Pfund, und der Gouverneur von New South Wales bewilligte weitere 1.000 Pfund zum persönlichen Gebrauch. 2.500 damalige Pfund entsprechen einem heutigen Einkommen von 5 Millionen australischen Dollar oder 1,7 Millionen Euro. Gut die Hälfte davon erhielt Leichhardt. Charley und Harry wurden mit je 50 Pfund abgespeist, obwohl sie für den Erfolg der Expedition ebenfalls unverzichtbar gewesen waren. 1847 ehrten die geografischen Gesellschaften in Paris und London Leichhardt mit goldenen Medaillen für das gesteigerte Wissen über den großen Kontinent Australien. Der Prinz der Entdecker, wie man ihn jetzt nannte, war unterdessen schon auf seiner zweiten Expedition unterwegs.

 

Mit seiner neuen Entdeckungsreise verfolgte er ein weitaus ehrgeizigeres Ziel. Er wollte eine Expedition von Brisbane an der Ostküste nach Perth an der Westküste durchführen. Per Luftlinie entspricht das einer Strecke von mehr als viertausend Kilometern, folgt man der Küste, muss man dafür zehntausend Kilometer zurücklegen. Acht Männer erklärten sich bereit, ihn bei diesem Wagnis zu begleiten. Mit der neuen Mannschaft wollte er auf bekannten Pfaden nach Norden reisen, um von dort aus den „Kern der dunklen Masse“, das Zentrum Australiens, zu durchqueren. Dass dort kein Süßwassermeer zu finden war, hatte der Entdecker Charles Sturt inzwischen herausgefunden. "Mein Fuß hat die Grenzen überschritten zu der gottverlassensten, schrecklichsten Region, in die ein Mensch jemals eingedrungen ist", beschrieb Sturt, was er im Innern Australiens vorfand. Er war mit seiner Expedition in Adelaide aufgebrochen und durch eine schier endlose Steinwüste bis zu den roten Sanddünen der Simpsonwüste vorgedrungen. Dort mussten er und seine Männer aufgeben. Sie waren dem Verdursten nahe und lebensgefährlich an Skorbut erkrankt.

 

Leichhardt war überzeugt, dass es ihm von Norden kommend besser ergehen würde. Auf dieser Route, so glaubte er, würden sie Perth in zwei bis drei Jahren erreichen. Er wollte in bewährter Weise dem Verlauf von Flüssen folgen, an denen Trinkwasser und Weideland zu finden waren. Als Begleiter schwebten ihm Zwangsarbeiter vor, die in der Hoffnung auf Begnadigung untertänig seine Anweisungen befolgen würden. Dieser Wunsch blieb ihm verwehrt, und sein Durchsetzungsvermögen wurde abermals hart auf die Probe gestellt. Von seiner ersten Expedition nahm er nur den Fährtenleser Harry mit. Er hoffte, dass der Eingeborene ohne den aufsässigen Charley gefügiger sein würde. Seine neuen Begleiter warnte er: Sie sollten sich ihm nur anschließen, wenn sie gewohnt seien, ohne Widerworte zu gehorchen.

 

Sie nahmen erheblich mehr Vorräte mit als auf seiner ersten Expedition und veranstalteten einen großen Viehtrieb mit vierzehn Pferden, sechzehn Mauleseln, vierzig Rindern, zweihundertsiebzig Ziegen und neunzig Schafen. Mit der Viehherde hatten sie zwar Nahrung genug, schafften jedoch nur wenige Kilometer am Tag. Ständig rissen Tiere aus und mussten wieder eingefangen werden. Starke Regenfälle verwandelten den Boden in zähen Morast, und die Tropensonne erhitzte die schwüle Luft auf vierunddreißig Grad. Schwärme von Moskitos, Buschfliegen und Hornissen fielen über die Abenteurer her, und sie erkrankten an Fieber und Durchfällen.

Regenwald, Queensland, Australien, Reiseblog
Der Regenwald bot Leichhardt und seinen Männern reichlich Wasser und Nahrung, aber auch Strapazen und Gefahren

Ungeachtet aller Qualen trieb der vom „Kern der dunklen Masse“ besessene Leichhardt die Männer erbarmungslos voran. Er hatte es für überflüssig gehalten, Medikamente mitzunehmen, weshalb die Nichtsnutze ihm nun heftige Vorwürfe machten. Nach der Überquerung des Mackenzie Rivers, der zu allem Unglück Hochwasser führte, waren sie zu schwach, um weiter zu reisen. Widerwillig campierte Leichhardt mit seinen Männern mehrere Wochen im Gebirge, damit sie ihr Fieber auszukurieren konnten. Als sie wieder aufbrechen wollten, waren alle Schafe und Ziegen ausgerissen. Um nicht zu verhungern, mussten sie die Ochsen schlachten. Das Fleisch verdarb, weil die Luft zu feucht zum Trocknen war. Nach nur fünf Monaten sah Leichhardt sich gezwungen aufzugeben. Er war in der Nässe an Rheuma erkrankt und von Fieber so geschwächt, dass er ohne Hilfe kein Pferd mehr besteigen konnte. Zurück in Sydney schoben er und seine Begleiter sich gegenseitig die Schuld für den Fehlschlag in die Schuhe. Leichhardts Ruhm als Prinz der Entdecker war mit dem Makel des Scheiterns befleckt.

 

Der ehrgeizige Abenteurer ließ sich von der Niederlage jedoch nicht abschrecken. Ein halbes Jahr später wagte er mit sechs Männern eine zweite Expedition, um den Kontinent von Ost nach West zu durchqueren. Am 5. April 1848 brachen die Männer von der Macpherson Schafstation östlich von Brisbane auf. Bis heute ist nicht geklärt, welches Schicksal ihnen auf dieser Reise widerfuhr. Ein ganzes Jahrhundert schwärmten Suchmannschaften aus, erst um Überlebende, dann um Überreste der Expedition zu finden. Forscher entwickelten Theorien, wo und wie Leichhardt und seine Männer zu Tode gekommen sein könnten. Man stieß auf Bäume, in deren Rinde er sein L eingeritzt hatte. Am Sturt Creek im nördlichen Westaustralien fand ein Aborigine ein verkohltes Gewehr. Es hing an einem Boab Baum, einem australischen Affenbrotbaum, in den ein L eingeritzt war. Am Schaft des Gewehrs befand sich eine kleine Kupferplatte mit Leichhardts Namen, deren Echtheit Wissenschaftler 2006 bestätigten. Er war also bis in die Große Sandwüste vorgedrungen.

 

Womöglich ist er dort verdurstet. Es gibt jedoch Indizien, dass seine Mannschaft gemeutert und ihn umgebracht haben könnte. Möglicherweise haben auch Aborigines sie getötet. Ebenso könnten die Männer vor der Wüste kapituliert und sich nach Port Essington durchgeschlagen haben. Forscher halten es für möglich, dass Felszeichnungen im westlichen Arnhem Land und im Kakadu National Park Leichhardt und seine Männer darstellen. Eine der Zeichnungen zeigt einen Mann mit einem Gewehr, eine andere einen Mann mit einem breitkrempigen Hut auf einem pinkelnden Pferd. Stellt eine dieser Zeichnungen Leichhardt auf dem Weg nach Port Essington dar? Sollte dies der Fall sein, hätte er dort eine böse Überraschung erlebt. Die Siedler hatten den Stützpunkt aufgegeben, nachdem ein Drittel der Bewohner einer Malariaepidemie zum Opfer gefallen war.

Welches Schicksal Leichhardt auch widerfahren sein mag, sein Verschwinden trug dazu bei, dass man seinen Namen „mit verdienten Ehren in der großen Unsterblichkeitstafel“ einschrieb. Selbst wenn die Männer es nur von Brisbane bis zur großen Sandwüste geschafft haben sollten, hätten sie eine ungeheure Leistung vollbracht. Die Hitze im Outback kann im wahrsten Sinn des Wortes mörderisch sein, wie ein aktueller Vorfall verdeutlicht: Im November 2012 blieben zwei Farmarbeiter mit ihrem Geländewagen in einer Sanddüne in der Simpsonwüste stecken. Sie versuchten vergeblich, den Wagen frei zu schaufeln, und machten sich zu Fuß zur sechzehn Kilometer entfernten Viehfarm auf. An diesem Tag herrschten Temperaturen von fünfundvierzig Grad, und sie hatten nur wenig Wasser mitgenommen. Der eine, ein gesunder, kräftiger Mann von fünfundzwanzig Jahren, brach wenige Kilometer vor der Farm zusammen und starb. Der andere hatte Glück. Er wurde geistig verwirrt und schwer dehydriert von einem Nachbarn gefunden. Ein Flugzeug brachte ihn ins nächste Krankenhaus, wo er mit knapper Not gerettet werden konnte.

 

Bis heute gibt es keine Straße, die auf gerader Linie durch die Wüsten im Zentrum von Brisbane nach Perth führt. Wäre Leichhardt den heutigen Highways gefolgt, wäre die kürzeste Strecke südlich von Brisbane verlaufen. Ab Port Augusta hätte er die Küste entlang reisen müssen. Die Route erstreckt sich über 4.300 Kilometer. Mit dem Auto schafft man sie in drei bis vier Tagen. Nimmt man das Flugzeug, ist man nicht einmal sechs Stunden unterwegs. Leichhardt hätte vermutlich zwei Jahre dafür gebraucht, wenn ihn nicht Wassermangel, Skorbut oder feindselige Aborigines dahingerafft hätten.

Rotes Zentrum, Australien, Reiseblog
Die großen Wüsten im Zentrum Australiens wurden auch Leichhardt zum Verhängnis

In der nächsten Folge erkunden wir Adelaide.